Punier heißen heute anders

Totalentspannung. Stundenlanges Siechtum, ganz gepflegt. Nach dem Besuch der Sauna und einigen Badegängen im Sprudelbecken hatte ich mich fremden Händen für eine Fußreflexzonenmassage übergeben. Danach wurden mir die Brauen gestreichelt, die Nägel gefeilt und die Poren ausgehöhlt. Entleerung ist ein herrliches Gefühl! Über der Behandlung senkte sich die Sonne und ließ den See, der sich vor der Gebirgskette ausbreitete, wie eine Juweliersvitrine funkeln. Bald gab es kein Licht mehr auf den Rücken der potenten Berge, die das Hotel vor jenseitigen Übergriffen beschirmten. Wie weit reichen Gipfel? Ich folgte ihren Umrissen bergab bis zum Ufer, über das Gewässer und bis zum Vorhof des Hotels. Wie schön, dass hier überall gewaltige Glasscheiben verbaut wurden, da weiß man, wie es draußen aussieht, ohne sich vom Fleck bewegen zu müssen. Unterschiedslos geht Innen Außen weiter und umgekehrt. Wer braucht heutzutage schon noch Grenzen?

Fast verlor ich mich über diese Betrachtungen, schuld war der Zustand, in den man mich verwöhnt hatte. Ich stand kurz vor der geistigen Auflösung. Nach der Behandlung zog ich Patschen und Bademantel an und wandelte über obligatorische Dielenböden. Hin und wieder nahm ich Halt an den wenigen Wänden des Hauses. Zurück in meinem Zimmer schob ich die Schlüsselkarte in den Schlitz und ließ das Retortenrefugium von allerhand Lampen und Strahlern vorteilhaft erleuchten. Dann machte ich es mir auf dem königsgroßen Bett bequem und ließ mich über mehrere hundert Fernsehkanäle aus der Haut fahren. Während mein Leib tiefer in die Kochwäscheschlucht hinabsank, ergötzte ich mich am Weltfensterpanorama, das die Fernbedienung bald selbständig schaltete: Wetterberichte, Nischensport, Katastrophen, Krimis, Schmuckverkäufe. Zur Feier meiner Indifferenz köpfte ich eine Flasche Schaumwein.

Viel Abwechslung bot mir der Bildschirm, doch dass im Fenster sich was rührt, damit hatte ich nicht gerechnet. Zuvor hatte der See dagelegen wie ein Komapatient, jetzt schob sich tatsächlich eine Flotte langsam durch den Nebel, massig, träge, unscharf. Ich trat ans Fenster. Da waren Schlauchboote, die schienen vor Erschöpfung ergraut, bemannt von dunklen Schemen, die der Nacht ähnlicher waren als die Hoffnung. Das waren sicher keine Urlauber! Die Masse steuerte auf das Ufer zu. Bis ich meinen Augen traute, nicht dem Schaumwein, verging die Zeit wie ein Amtstermin. Soll einer verstehen, was da passiert, ich tat es nicht. Das musste noch jemand gesehen haben! Ich schlüpfte in die Samtpatschen, riss am Türknauf, stürzte hinaus und beim Ausgang fast über die Auslegeware des Korridors und hastete zu den Fahrstühlen. Der fensterlose Gang war voller Gemeinheit: Was bloß draußen jetzt geschah? In der Lobby würde ich Antworten finden, doch für Treppen war jetzt keine Zeit – ich drückte alle Fahrstuhlknöpfe wie auf einem Spielautomat, bis die Kabinentür sich auftat. Ich stieg ein und blickte noch mal in den Spiegel, meinen Mantel zu richten, dann wurde ich abgefahren: erstes Obergeschoss… endlich – Erdgeschoss!

Die Hotelgäste klebten schon am Glas, einige waren nervös in die Foyermöbel gesunken, als beschleunigten sie stark. Ich stellte mich zu den Schaulustigen. Was war zu sehen? Wolken schoben sich durch das Dunkel. Die Umnachtung gab immer wieder grelle Gipfel frei; die Berge reichten ewig. So wie sie sich behaupteten, schien hinter ihnen ein Abgrund ins Nichts. Der See zu ihren Füßen war klar bedeckt von Nebel wie ein feiner Schimmelfilm. Der Anblick war atemberaubend. Aber deswegen drückten wir uns ja nicht die Nasen an den Scheiben platt! Das war wegen der Spontananlegestelle, die sich durch die ungezählten Schlauchboote am Ufer gebildet hatte. Die Vehikel türmten sich zu einem keuchenden Haufen Notkunststoff. Der Vorhof war von hüfthohen Strahlern angenehm erleuchtet. Nächstens erschien der Concierge und sprach zu den Landgängern, die sich mittlerweile zwischen einem Dutzend neumodischer Geländewagen gekauert hatten: Sie können hier nicht rasten, der Parkplatz ist für Gäste reserviert! Da kam endlich die Direktorin und zischte ihrem Angestellten zu: Was geht hier vor sich? Die Gäste sind hier, sich zu vergessen, und nicht ausgestattet für Einbrüche in ihre Komfortzone. Was sollen außerdem die Nachbarn denken? Bringen Sie diese Leute herein!

Ich suchte meine Augen zu normaler Größe zu schließen, wischte Schweißperlen mit dem Frotteegürtel meines Mantels ab und ging an die Bar. Ich brauchte einen Schnaps. Auf dem Weg fühlte ich Aufruhr in den Gängen pochen. Drittklassige Gemälde von niemandes Ahnen hingen schief, Kunstblumenbouquets waren umgeworfen, garstige Flecken überall, hin und wieder ein verwitweter Patschen. Ich langte im Speisesaal an. Der war randvoll der Reisenden und fast sämtlichen Gästen aus dem Hotel – es gab ja immer welche mit der beneidenswerten Eigenschaft, sich die Ruhe unter keinen Umständen nehmen zu lassen für Heißsteinmassagen oder fragwürdige Stunden vor dem Bezahlfernsehen. Die aus Übersee waren derweil an Tafeln adrett platziert. Ich bezweifelte, dass man sie bisher hatte zu Wort kommen lassen, aber sie schienen eher essen und ruhen zu wollen, als die Gäste mit ihren Abenteuern jenseits der Berge zu unterhalten. Noch ehe man ihnen allerdings auftun konnte, kraxelte ein fettwanstiger Gast auf das Buffet. Mit einem Fuß im Erdäpfelsalat, dem anderen im Kaiserschmarren, hob er an: Aufhören, das akzeptiere ich nicht! Man macht mir hier nichts vor, ich weiß doch, wie es läuft: Die nehmen uns Krankheiten weg und schleppen Arbeit mit ein, erziehen Kinder und schänden unsere Terroristen und am Ende des Tages lassen sie die Abendsonne untergehen, landauf, landab! Wie der Mann wütete, hatte ich Angst, er kollabiert. Ich wollte ihm die Hand zur Hilfe reichen, ihn vom Buffet geleiten, da keuchte er ein siebtes Mal und fiel bäuchlings auf den Braten. Das war kein schöner Anblick; die Ankömmlinge ließen von ihren Tellern ab und warteten, bis des Wanstes Maul mit einem Apfel gestopft, er leibhaftig auf eine Trage gelegt und Richtung Küche abgeschoben wurde. Das Abendbrot dauerte fort, doch nichts war so wie früher.

Jetzt war auch mir alles einerlei. Niemand schien sich an meinem Frotteekostüm zu stören, das ich noch immer nicht gewechselt hatte. So suchte ich den Concierge mich über die Zukunft, dem sprunghaften Luder, zu vergewissern. Seine Finger waren wundgewählt und schal hing ihm die Zunge aus dem Hals; er hatte nach Unterkünften telefoniert. Gab es denn keine anderen Gästezimmer nirgendwo noch in den Spalten dieser stolzen alten Berge? Er befürchte nein. Neben mir hatte sich eine Schlange gebildet, in der pikierte Damen und Herren feinsäuberlich aufgereiht darauf warteten sich kläffend über das Unvorhergesehene zu beschweren – da muss es doch ein Formular geben, eine Anlaufstelle!

Ich brauchte frische Luft und fand sie in der Nacht. Die Boote trauerten herrenlos um ihre Passagiere, der See lag glatt wie eine Motorhaube vor den Bergen; solange, bis ich hineintrat: erst der eine Samtpatschen, dann der andere. Der Frotteemantel saugte das Wasser auf, bis es mir zum Halse stand.