Die Giraffen loslassen

Dann öffnete ich die Augen. Vor mir eine Weite, unermesslich. Ich starrte in die Unendlichkeit, die sich nach hinten immer weiter ausdehnte, doch niemand schaute zurück. Nach einigen Sekunden war mir klar, wie langweilig ein Himmel ist: Kein Reiz fand sich in der makellos blauen Lücke vor mir. Vielleicht war da was dahinter? Ich bohrte mit dem Finger darin herum, einen Riss aufzutun. Ging nicht. Da fiel mir ein: Meinen Kopf könnte ich bewegen. Das ging. Als ich zur Seite blickte, krochen mir Grashalme ins Ohr und liebkosten seine Schnecke: „Steh auf, Engel, Wäsche ist fertig!“ Das kam mir ganz gelegen. Beim Essen benehme ich mich ganz fürchterlich und das Abendbrot hatte mir das Hemd ruiniert mit einem gewaltigen Fleck Soße. Als ich an mir herunterschaute, war es schon zu spät: Der Fleck hatte ein Loch in das Hemd gesenkt und gab einen hübschen Anblick auf des Bäuchleins Nabel frei. Der hatte Sehnsucht nach Zärtlichkeit. Ich wollte gerade Hand an mich legen, da klingelten meine Finger. Sofort ging ich ran: „Hallo? Wenn du nicht mit der Sprache rausrückst, muss ich es wohl aus dir heraussaugen!“ Die letzten Worte konnte der Anrufer gar nicht mehr hören, da war mein Daumen zwischen den Vokalen. Diesmal war ich wirklich hartnäckig, bemerkte dafür aber meine liebe Großmutter nicht, die extra aus dem neunzehnten Jahrhundert angereist war samt Glacéhandschuhen und Korsett; nur der Fächer war riesig und aus Japan. Damit klapste sie mir feurig auf den Po. „Dass du dich nicht schämst, so an dem Vertrauten festzuhalten!“, mahnte sie mich. „Ich halte dich stets als einen jungen Mann in Erinnerung mit Neugierde und frischem Hemd.“ Wie Recht sie hatte, dachte ich, als Großmutter den zweiten Klaps fächerte – und hastete zum Rathaus, die Bürgermeisterin zur Rede zu stellen. Es galt keine Würde zu verlieren! Ich beachtete den Sekretär nicht, der mir auf seinem Stuhl entgegenrollte, um mich von der Audienz abzuhalten. So nicht! Ich schnallte mir die Rollschuh unter, steifte noch den Arm des Handlangers und glitt den langen Gang entlang. Am Ende eine Tür, die machte ich auf. Die Bürgermeisterin stand über ihrem Schreibtisch gebeugt. Darauf ein staubiges Obsidiantablett umringt von etlichen munter plaudernden Geldscheinen. Ich räusperte mich. Die Bürgermeisterin schreckte hoch, das Gespräch erstarb, die Scheine warfen sich sorgfältig aufeinander und verschwanden als Bündel in des Tisches Lade. Dann lieferten die Bürgermeisterin und ich uns ein hitziges Wortgefecht. Leider verstand ich kein Wort davon und kann es jetzt nicht mehr wiedergeben. Ich war kurz davor, das Argument zu gewinnen, als die Tür aufsprang. Der Sekretär hatte mich eingeholt und streckte seine Hände nach mir aus, seine Finger lange Füllfedern, mit denen er mich zeichnen wollte. Ich war schneller, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und floh in den Gang. Den Paternoster fand ich gleich um die Ecke. Unerträgliche Minuten musste ich auf eine freie Kabine warten, denn alle waren besetzt von Musikanten einer probenden Blaskapelle. Plötzlich fiel mir ein: Ich hatte die Giraffen vergessen! Ich eilte in den Zoo, löste das Billet und klemmte mich ans Gehege. Die Tiere waren gewaltig und beeindruckend und fruchterregend. Ich sammelte trotzdem ein paar zusammen und ging Richtung Stadtrand. Wohin ich schaute, ragten Berge in die Höhe. Das Umland war ein Kessel, auf deren Grund die Stadt garte. Ich kletterte auf den höchsten Gipfel und stellte die Giraffen ab. Ihre Hälse waren gewachsen und ineinander geflochten. Ich blickte auf die Stadt hinab; all ihre Gassen, Kanäle, Hochhäuser, Scheunen und ihre Festung das Rathaus. Der Anblick machte mir Platzangst, das war keine gute Idee zu gucken! Ich musste höher noch hinaus, meine Vision ein Spektrum: die Stadt grau, die Berge grün, der Himmel blau, das All pechschwarz, die Sonne rot, orange, dann gelb. Im Innern würde ich erblinden, da ist alles weiß und makellos und unerträglich. Ich wühlte aus Einfallslosigkeit in meiner Hosentasche fand Gesichtsmilch, Lichtschutzfaktor dreißig. Konnte ich nicht gebrauchen. Ich griff in die andere Tasche. Erdnussbutter! Die schmierte ich zwischen die Giraffen. Die Tiere klebten aneinander und ich legte sie mir um. Das Gras hatte es geflüstert, jetzt hat der Engel Flügel! Ich hob ab. Was ich von oben sah, kann ich nicht erzählen, das würde mir eh keiner glauben. Nach einem halben Dutzend falscher Fährten und Umwegen war ich auf dem rechten Pfad und wollte das Blau hinter mir lassen, da tropfte mir was auf die Schuh. Die Giraffen leckten an der Butter! Ich streichelte sie, gab ihnen Namen, doch es half alles nicht: Meine Flügel waren zersetzt und aufgeleckt und ich fiel, ich fiel, fiel viel. Für ein paar hundert Stockwerke war das noch amüsant, dann kam mir der Boden näher. Macht nichts, dachte ich, das ist der Schoß von Mutter Erde, ich falle weich hinein. Doch als ich noch mal blinzelte, erschien eine Kontur: Genau unter mir lag ein junger Mann im Gras, unbedarft und ahnungslos, und starrte in die Luft. Wir würden aufeinanderprallen. Nur keine Panik! Aber aufhalten konnte ich weder mich noch ihn. Ich schnarchte, schrie und applaudierte. Keine Regung, nichts half. Der Aufprall kam näher, gewiss wie das Amen an der Börse unerbittlich wie eine Kaffeefahrt. Das konnte ich unmöglich ansehen. Ich schloss die Augen. Nicht schwarz wurde es, weiß. Und unendlich still. Nichts folgte. Dann öffnete ich die Augen.