Brief an Frank Appel

Sehr geehrter Herr Dr. Appel,

gewiss sitzen Sie, so Sie diesen Brief, von Ihrer Sekretärin lapidar geöffnet, in Fächerform ausgebreitet und Ihnen auf dem Schreibtisch vorgelegt, in den Händen halten, im fünfunddreißigsten oder zweiundvierzigsten Stockwerk – ab einer gewissen Höhe macht dies ja keinen Unterschied mehr – eines im Grunde fremdartig, weil ganz und gar eigenschaftslosen Hochhauses am Rheinufer und schauen ab und zu hoch und durch die betörend große Glasfläche auf die von dort oben noch kleiner als üblich scheinende Stadt Bonn, die ja mit einem Mal, sozusagen über Nacht, als der Umzug der Regierung nach Berlin vollzogen, in Bedeutungslosigkeit zurückgelassen wurde, und die Sie von Ihrem Standpunkt aus gewiss bis in ihre letzten Ausläufer der rheinischen Periphere überblicken können.

Ihr Imperium reicht, wie wir wissen, unermesslich weiter als bis zum westdeutschen Horizont und wie Sie dort sitzen, so habe ich es einschlägigen Informationsquellen entnommen, sind Sie Vorstandsvorsitzender des größten Logistikunternehmens der Welt, was zwar Ihre Leistung allein nicht gewesen ist, doch ich gratuliere Ihnen, der Sie sich bestimmt mit Eifer und Kontakten zu den bedeutenden Einflussreichen in diese Position gebracht haben, und der Deutschen Post zu diesem im wahrsten Sinne unermesslichen – denn was, bitte schön, bedeuten achtundvierzig, neunundvierzig, oder fünfzig Milliarden Euro? – und sehr beachtlichen Erfolg!

Seit geraumer Zeit stehen Sie nun einem Unternehmen vor, das, so denke ich oft bei mir, eine der nobelsten und schönsten Aufgaben zu erfüllen sich anschickt, die sich im täglichen Miteinander der Menschen überhaupt denken lässt. Sie nehmen sich den Ihnen anvertrauten Briefen und Paketen, allerhand Sendungen und Lieferungen, an und senden und liefern eben jene Briefe und Pakete von Absender zu Empfänger; von einem Ort also zum anderen. Von der Einfachheit der Aufgabe bin ich noch immer überwältigt. Womöglich ist dies nicht des Unternehmens einzige, sicher aber seine bedeutendste, und man darf getrost, so denke ich, und nicht allein der Historie der Deutschen Post wegen auf den Gedanken verfallen, seine hauptsächliche Aufgabe, die Tag für Tag und unermüdlich bewältigt werden will. (Denn irgendwo ist immer Werktag auf der Welt.)

Wie oft schon habe ich mir die Reklame vorgestellt, die Ihr Unternehmen aushängen könnte an Haltestellen, Litfaßsäulen und dergleichen! Da bergen Menschen mit klinisch weißem Lächeln Ansichtskarten aus Ihrem Postkasten aus Borneo, Tansania oder Wertach im Allgäu; da öffnet jemand seine Haustür und nimmt von einem gleichfalls überbreit lächelnden Boten ein Paket entgegen mit Sachen, die er tags zuvor erst von daheim bestellt hat; es ist gar vorstellbar, dass die Leute durch solcherlei Werbung wieder Lust bekommen, einander Briefe zu schicken und Karten, denn Handgeschriebenes im Postkasten vorzufinden – und da stimmen Sie mir sicher zu –, ist denkbar schön und einfach. Wie gelangt ein Brief zum Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post? Mit Ihresgleichen haben Sie sich über Jahre ein ansehnliches Bollwerk errichtet, dass es mir und Anderen im Grunde unmöglich macht, mit Ihnen, der Sie wie ein Auserwählter einer der schwindend Wenigen sind, die über Entscheidungsmacht verfügen in dieser sich als Unternehmen noch bezeichnenden kapitalistischen Großorganisation. Sie haben sich hinter einem Vorstand verschanzt und sind somit unerreichbar geworden für mich und die mir ähnlich sind, die wir die Schönheit sehen in der Verantwortung, die Ihr Unternehmen auf sich zu nehmen behauptet, und die wir doch von dessen Unzulänglichkeiten fast täglich auf das Niederschmetterndste enttäuscht werden und es sind diese ungemein frustrierenden Enttäuschungen, von denen ich Ihnen nun, da ich einen Weg Sie anzusprechen gefunden zu haben meine – mit Ihren Mitteln sozusagen –, erzählen möchte und bitte Sie, ihnen Ihre Aufmerksamkeit bis zur letzten Zeile zu widmen und anschließend und aus Einsicht, hoffentlich, alles in Ihrer Macht stehende zu tun, diese im rechten Licht gesehenen unfasslichen Missstände zu beseitigen.

Es kommt hin und wieder vor, dass ich zwecks Entgegennahme einer von mir aufgegebenen Bestellung zuhause bleibe, da mir die Ankunft der Lieferung vorab – welch ein Service! – auf dem Bildschirm angekündigt worden ist. Ich hocke also da und warte mit kindlicher Freude auf ein Klingeln an der Haustür, das die Ankunft des Ersehnten mir ankündigt –

allein, nichts dergleichen geschieht und ich kann fast in Echtzeit noch verfolgen, wie der Bote die Sendung in seinem Vehikel aus mir unerklärlichen Gründen an meiner Haustür sozusagen geradewegs vorbei- und in die Postzentrale zurückfährt;

oder ich finde statt der Lieferung bald einen gelben Zettel in der Hand, den ich, nachdem ich eilig in den Hausflur gerannt, aus dem Postkasten hole, und der fälschlich behauptet, ich sei zwecks Entgegennahme des Guts daheim nicht anzutreffen gewesen;

oder es findet sich bei mir weder ein Paket noch eine Notiz vor, die über desselben Verbleib mir Auskunft gibt, sodass ich mutmaßen muss, dass es sich in einer Ihrer scheinbaren Filialen in der Nähe befindet (Bekannte haben mir berichtet, Sie musten durch die halbe Stadt fahren, um ihre Lieferung entgegenzunehmen, und auch die Angabe einer Wunschfiliale, wie Sie es so reizend bezeichnen, hätte an diesem Umstand nichts geändert) –

niemals (!) aber klingelt es beherzt an meiner Tür und ein Bote mit breitem Lächeln im Gesicht überreicht mir stolz ob seiner ehrenvollen Aufgabe und deren Erfüllung die lang ersehnte Lieferung!

Sicher verstehen Sie meine Irritation (die bisweilen in Empörung ihren Ausdruck findet) ob dieser Geschehnisse, denn es ist mir bei aller Einfachheit der Aufgabe – und in dieser Einfachheit liegt die Schönheit der Sache begründet –, nämlich ein Gut von Ort zu Ort zu bringen, unbegreiflich, wie schwer es der überwältigenden Mehrheit Ihrer Angestellten fällt, eben diese zu erfüllen.

Ich möchte Ihnen mehr davon erzählen: was nämlich geschieht, wenn ich nach eigenhändiger Recherche nicht selten Tage später in Erfahrung habe bringen können, wo mein Paket geblieben ist: Natürlich muss ich, obwohl der Postwagen gewiss durch meine Straße gelangt und also mein Paket sozusagen zum Greifen nah gewesen ist, noch einen oder zwei Tage Geduld aufbringen, bevor die Lieferung gelagert wird in der vermeintlich nächstliegenden Filiale, die ich nun also, sofern es mir meine Zeit erlaubt – die ich durchaus, wie unzählige Ihrer Kunden, auf reaktionär organisierte Erwerbsarbeit verwenden muss –, aufsuche. Da ich mitnichten der Einzige bin, dem das Paket unter der Nase wieder abgefahren wird und es zudem noch Leute gibt, die eine Sendung aufgeben möchten oder nur Bankgeschäfte zu besorgen haben, bildet sich mit einiger Verlässlichkeit eine imposante Schlange, die oft vor dem Postamt erst ihr Ende findet und in die ich mich, möchte ich meine Lieferung bald in den Händen halten, einreihe. Viertelstunde um Viertelstunde verstreichen. Zeit, um ausgiebig und immer und immer wieder beeindruckt zu sein von dem Umstand, dass Ihr Unternehmen es mit bemerkenswerter Treffsicherheit vollbracht hat, historische Postgebäude zum Beispiel aus den 1880er oder 1920er Jahren, von denen nicht wenige und aus guten Gründen geschützte Baudenkmäler sind, mit einer Einrichtung, die man ohne zu zögern als „widerwärtig“ bezeichnen kann, gänzlich zu verunstalten und die Kulisse darstellt für Stunden zähen Wartens. Bin ich an der Reihe, begibt sich die Dame am Schalter auf die Suche nach meiner Post und macht dabei den Anschein, als hielte sie die Bitte, mir in der Postfiliale ein Paket auszuhändigen, für völlig abwegig. Ohnehin erscheint die Angestellte leider nur allzu häufig mit leeren Händen und frage ich warum, bekomme ich zu hören, sie wisse beileibe nicht, wo mein Paket verblieben ist; nein, den Boten kenne sie auch nicht – obgleich dieser ja die Lieferung ihr überreicht, da ich sie doch das eine oder andere Mal abholen kann nach heimischer Peinigung, dem sich anschließenden Warten in der Schlange und der Enttäuschung, sollte ich den Weg einmal zu früh, das heißt umsonst getan haben –, überhaupt kann sie mir nicht helfen, da Sie gar nicht, so behauptet die Schalterdame frech, bei der Deutschen Post arbeite, sondern für die Postbank. Eine überzeugende Erklärung dafür, warum sie gleichwohl Briefmarken verkaufen, Sendungen zum Versand in Empfang nehmen sowie Lieferungen ausgeben, und also eine ansehnliche Bandbreite an Diensten anbietet, die man unzweifelhaft als diejenigen der Deutschen Post, nicht jedoch einer Bank ausmachen würde, konnte mir auf drängende und, wie ich finde berechtigte, Nachfrage keine der Angestellten, die ja offenbar gar nicht die Ihren zu sein scheinen, geben.

Werde ich beharrlich, so händigt man mir regelmäßig, als handle es sich um einen Talisman, der die Schalterdame vor meiner aufbrausenden Fassungslosigkeit zu schützen vermag, ein Kärtchen aus mit einer Nummer darauf, die bitte schön anzurufen mir höflich aber endgültig angeraten wird, sollte ich eine Beschwerde an die Post richten wollen. In diesen Augenblicken fühle ich mich – und ich bin sicher, dass Sie, sehr geehrter belesener Herr Dr. Appel, verstehen warum – wie Kafkas Protagonist K., umherirrend in Dorf und Schloß und sich vor Verzweiflung die Haare raufend, da ich wie er nicht durchdringe zu den Menschen mit den einfachsten Anliegen. Ich habe mittlerweile eine stattliche Kollektion dieser Kärtchen in meiner Schreibtischlade und hole sie von Zeit zu Zeit hervor, meiner Niederlagen zu gedenken.

Ein, zwei oder dreizehn Mal rief ich diese Nummer an, bloß um von der Hilflosigkeit der Angerufenen bald belustigt, bald bestürzt zu sein: Nachdem ich mein Anliegen allgemeiner Natur vorgebracht habe, erbat man die Nummer der verloren gegangen Sendung. Hat man mir gar nicht zugehört? Es ist, als spreche ich hinein in eine Apparatur, die bloß programmiert ist, auf zwei oder drei vorher bestimmte Fragen zu antworten mit einer aus x möglichen Antworten – wird ein Gesuch nicht erkannt, wählt das Programm per Zufall eine Antwort, die dem Anrufer genügen muss, und dem es verteufelt schwer gemacht wird, sein Gegenüber als Mitmensch von gesundem Verstand überhaupt noch wahrzunehmen und achten zu können. Schlagartig wurde mir nach dem Niederschmettern des Hörers auf die Gabel klar dass ich in Ihrem Bollwerk angerufen hatte; es ist beileibe _K._s Ziel und Alptraum: das Schloß.

Es ist bevölkert von hunderten und aberhunderten solcher Angestellten, die, so stelle ich mir vor, in all den vielen Stockwerken sitzen unter dem Ihrigen; zu Dutzenden, Hunderten sind sie versammelt in langen, kargen Großräumen, deren niedrige Decken aus perforierten Pappkassetten in rasterförmige Blechschienen eingelegt das Geschoss erbarmungslos überspannen; dazwischen Quellen grellen Lichts, das einen kratzigen grauen Teppich bestrahlt sowie Funktionsmöbel aus Plastik, Pressspan und Furnier. Alle Angestellten sind ausgerüstet mit einem Telefon aber keinerlei Spielraum zu Handeln; naturgemäß, und ohnehin ohne Verantwortung für das Vorgehen des Unternehmens, für das sie arbeiten. Die Macht haben Sie, sehr geehrter Herr Dr. Appel, und der Vorstand, dem Sie vorsitzen, ich gratuliere! Ich gestehe Ihnen frei: Ich bin schwer beeindruckt, wie Sie um sich und Ihresgleichen Bannkreise gezogen haben; wie Sie es fertig bringen, das größte Logistikunternehmen der Welt zu leiten ohne auch nur einen Angestellten in den landauf, landab noch immer so genannten Postfilialen; ferner wie Sie sich den Unmut sowie kritische Worte an Ihrer und Ihrer Angestellten Arbeit mit einer Hundertschaft von unterbezahlten Telefonisten vom Leibe halten, Chapeau!

Sehr geehrter Herr Appel, ich bitte Sie an die Schönheit zu denken, die in der Aufgabe liegt, derer sich die Deutsche Post vor anderthalb Jahrhunderten schon angenommen hat; an die Freude, die Sie täglich tausenden von Menschen auf der ganzen Welt bereiten können; eine Freude, die sich allein schon einstellt, wenn man eine Grußkarte bekommt, seltener einen handgeschriebenen Brief, oder freilich das Paket mit all den Geschenken, die man meist sich und manchmal Anderen macht. Bezahlen Sie Ihre Angestellten besser, schulen Sie gewissenhafte Boten (ich möchte schweigen von Verdachtsfällen, als meine liebe Großmutter hin und wieder ihren Briefen Geld beilegte und es genau und nur diese waren, die nie bei mir anlangten…); und lassen Sie um Hermes Willen Angestellte der Post in der Post wieder arbeiten, die empfänglich sind für Sorgen, Nöte, Hilfsgesuche, die mit Rat und Tat und fachmännischem Verstand zur Stelle sind! Sie werden sodann nicht nur einem der größten, sondern auch einem der schönsten Unternehmen der Welt vorstehen und es würde Ihnen gedankt werden zum Beispiel mit reichlich Grußkarten aus aller Welt für Ihr Bemühen um die sodann wieder hochgeschätzte Deutsche Post.

Sehr geehrter Herr Appel, ich bitte Sie um der Sache Willen an die Schönheit zu denken, die in der Aufgabe liegt, derer sich die Deutsche Post vor anderthalb Jahrhunderten schon angenommen hat; an die Freude, die Sie täglich tausenden von Menschen auf der ganzen Welt bereiten können; eine Freude, die sich allein schon einstellt, wenn man Grüße in Form einer Karte bekommt, seltener eines handgeschriebenen Briefs, oder freilich das Paket mit all den Geschenken, die man meist sich und manchmal Anderen macht. Bezahlen Sie Ihre Angestellten besser, schulen Sie gewissenhafte Boten (ich möchte schweigen von den Fällen des Verdachts, als meine liebe Großmutter hin und wieder ihren Briefen Geld beilegte und es genau und nur diese waren, die nie bei mir anlangten…); und lassen Sie um Himmels Willen Angestellte der Post in der Post wieder arbeiten, die empfänglich sind für Sorgen, Nöte, Hilfsgesuche, die mit Rat und Tat und fachmännischem Verstand zur Stelle sind! Sie werden sodann nicht nur einem der größten, sondern auch einem der schönsten Unternehmen der Welt vorstehen und es würde Ihnen gedankt werden zum Beispiel mit reichlich Grußkarten für Ihr Bemühen um die sodann wieder hochgeschätzte Deutsche Post.