Eintausend Verbrecher

Am Empfang besah die beleibte Dame erstens den Brief, der mir mit der Bitte ihn mitzubringen zugesandt worden war, zweitens meinen Ausweis, und reichte mir beides mit einem dritten Schrifstück über den Tresen. Ihr Kollege öffnete die Pforte und ich folgte den Wegbeschreibungen zu Zimmer 1173 im ersten Stock des Landeskriminalamts. Der Warteraum war menschenleer, bloß Stühle standen gedrängt und unbesetzt an den Wänden, einer neben dem anderen. Ein Dutzend Zettel gaben Anweisungen, klärten auf und mahnten. Nachdem ich das Nötigste gelesen hatte, zog ich eine Wartenummer. Mit augenblicklicher Verzögerung ertönte ein Signal und die Tafel über dem Apparat zeigte meine Nummer an, worauf ich aus der Wartestube heraustritt und an der Tür des Nebenzimmers klopfe. Man bat mich, einzutreten. Zu meiner Rechten saßen hinter alten Bildschirmen zwei Beamte; zur Linken standen vier weitere durch Sichtschutz getrennte Monitore, die allesamt mit „Zeugenstand“ überschrieben waren. Ein Mann drückte in schneller Folge auf eine handgroße, mit fünf Knöpfen versehene Tastatur. Die übrigen Tasten waren entnommen worden und hinterließen plastikschwarze Leere.

Ich grüßte, setzte mich einem der Beamten gegenüber und überreichte ihm meine Wartenummer, meinen Passierschein, meinen Brief und abermals meinen Ausweis, die er allesamt eingehend prüfe. Schließlich ließ er mich den Vorfall erklären: Im Sommer hatte Gelegenheit Diebe gemacht und meinen Rechner gestohlen. Ungeschickt hatte ich das Gerät im Freibadimbiss hinter der Teke abgelegt, die jedoch für Badegäste leicht einsehbar war. Die vermeintlichen Übeltäter glaubte ich kurz zuvor, während sie für Eiskrem in der Schlange standen, beim Komplottieren zu beobachten. Doch das setzte sich mir erst zusammen, als der Rechner verschwunden war und Aufruhr auf der Liegewiese herrschte: Mit dem Diebesgut türmten die Langfnger über den Zaun, noch ehe ich mich versah.

Der Beamte stellte mir Fragen zum Aussehen der Täter; wo, glaubte ich, kamen sie her? Wie groß waren sie gewesen und von welcher Statur? Nachdem ich die Fragen nach bester Erinnerung beantwortet hatte, deutete mir der Polizist, mich an einen der im Raum verteilten Monitore zu setzen. Der Beamte hatte gemäß meiner Schätzungen und Beschreibungen eine Kartei von möglichen Verdächtigen erstellt, die sich jetzt, als der Bildschirm licht wurde, öfnete. Da waren sie, in loser Folge geordnete eintausend Verbrecher, die auf meinen Bericht zu passen schienen. Ein jeder dieser jungen Männer war in sechs Aufnahmen dargestellt: zwei Profle, zwei Halbprofle, eine Ganzkörperfotografe und in der Mitte, die Hälfe des Schirms einnehmend, eine Frontalaufnahme allein des Gesichts. Die Bilder waren anscheinend unmittelbar nach einer Festnahme gemacht worden; immer wieder wurde ich blauen Augen, aufgerissenen Lippen, Platzwunden und Blutkrusten ansichtig. Auch sonst schlug mir von den meisten Portraits mit beachtlicher Wucht eine bemerkenswerte Hässlichkeit entgegen. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen: Auf Knopfdruck wechselten sich in schneller Folge völlig aus der Form geratene Gesichter, deren Einzelheiten wie absichtlich in einem eklatanten Missverhältnis zueinander zusammengesetzt schienen. Viele dieser Männer sahen völlig heruntergekommen aus, wobei der Zustand in dem sie sich zur Zeit ihrer erzwungen Ablichtung befunden haben, diesem Eindruck sicher zuträglich ist.

Nachdem ich bereits mehrere Hundert dieser Mannsbilder angeguckt hatte, gelangte ich ans Ende meiner Kräfe und zweifelte, noch mehr von ihnen betrachten zu können. Welch Reiz ging aber doch von dieser Kartei aus, in der Männer, die überwältigt, überführt und eingesperrt werden, sich von allen Seiten hatten präsentieren müssen, damit man standardisierte Aufnahmen von ihren lädierten Gesichtern macht für einen schier unerschöpfichen, virtuellen Zeugenstand.

Schließlich ebbte die Faszination für das, was mir widerfuhr, ab. Welchen Sinn hatte meine Suche? Wieso starrte ich auf eine nicht enden wollende Parade an Grotesken? Was, wenn ich mich nicht recht erinnert hatte, wenn ich die Größe der Diebe falsch eingeschätzt hatte oder das Alter? Ich betrachtete nacheinander eintausend Männer wie ein Panorama der Gemeinheit und der Gesuchte ist womöglich ein Jahr jünger oder älter als angegeben? Was die Beamten schließlich mit der Auswahl der von mir markierten Männer machten, ist mir ein Rätsel geblieben, und ich habe keine weiteren Auskünfe erhalten als einen Brief nach einiger Zeit, der mir bedeutete, die Suche verlief ergebnislos und der Fall werde zu den Akten gelegt. Meinen Rechner sah ich nicht wieder, auch niemals mehr so viele Verbrecher.